Erfahrungen

Studien zum Tagebuch

Machbarkeit pädiatrischer Tagebücher

Die Evidenz für Intensivtagebücher im pädiatrischen Umfeld ist immer noch gering. Wang et al (2021) aus den USA implementierten Tagebücher auf einer pädiatrischen Intensivstation (PICU) in einem Qualitätsverbesserungsprojekt. Das Projekt konzentrierte sich auf die Entwicklung und Umsetzung unter Verwendung des IOWA-Modells der evidenzbasierten Praxis. Ein Team von Pflegenden und Reha-PsychologInnen entwickelte ein Handbuch zum und mit einem Tagebuch, einer Einführung und einem Leitfaden (kostenlos erhältlich unter http://www.med.umich.edu/1libr/PedICU/ICUDiary.pdf). Weitere unterstützende Faktoren waren Informationsflyer für Familien, häufige Besuche des Projektteams und die Motivation, Fotos von wichtigen Meilensteinen zu machen. Das Projekt wurde durch eine wöchentliche Umfrage nach elterlicher Akzeptanz und Zufriedenheit bewertet. 17 Familien erhielten das PICU-Tagebuch und 15 Eltern schlossen die Auswertung ab. Mütter trugen wesentlich zum Tagebuch bei. Eltern brauchten mindestens 5 Minuten, um Einträge zu schreiben. Die PICU-Tagebücher wurden als vorteilhaft empfunden und die meisten Eltern empfahlen sie auch für andere Eltern. Familien schlugen in Freitext-Antworten vor, mit dem Tagebuch von Anfang an zu beginnen (es begann an Tag 2-4), sie baten um mehr MitarbeiterInnenbeteiligung und eine elektronische Version. Das Projekt ist erfolgreich, aber es ist mehr Forschung erforderlich, so die AutorInnen, z. B. langfristiges Follow-up, Identifizierung der am stärksten gefährdeten Gruppen, Verwendung von webbasierten Tagebüchern und andere. Die AutorInnen folgerten auch: „Unsere Erfahrung legt nahe, dass Kinder mit chronischen Erkrankungen und wiederholter Exposition gegenüber PICU-Aufenthalten die Tagebücher weniger hilfreich finden können." – ein sehr interessanter, neuer Gedanke und sehr plausibel, insbesondere im pädiatrischen Umfeld. Gut gemacht!

Wang SH, Owens T, Johnson A, Duffy EA. Evaluating the Feasibility and Efficacy of a Pediatric Intensive Care Unit Diary. Crit Care Nurs Q. 2022 Jan-Mar 01; 45(1): 88-97.

Die Erfahrungen verstehen

Für Überlebende einer schweren Erkrankung ist es nicht einfach, die Erfahrungen der Intensivmedizin zu verstehen. Zisopoulos et al (2021) aus Griechenland führten eine Studie durch, um den Verständnisprozess von Überlebenden zu erforschen. 26 ehemalige PatientInnen nahmen an drei Schreibsitzungen teil, in denen sie eingeladen wurden, über ihre Erfahrungen auf der Intensivstation zu schreiben. In der zweiten Sitzung wurde ihnen ein Tagebuch übergeben. Das Tagebuch (retrospektiv konstruiertes Interventionstagebuch (RCID) basierend auf dem Aufenthalt auf der Intensivstation" mit Beschreibungen von Prozeduren, Medikamenten, Bewusstseinsebenen usw.) wurde aus den Krankenakten abgeleitet. Die AutorInnen analysierten die erste und dritte Sitzung im Hinblick auf den Prozess während des Schreibens. In der ersten Sitzung fühlten sich die PatientInnen verzweifelt und desorientiert, dem Tode nahe und ohne Sinnstiftung: „Meine Erfahrung auf der Intensivstation war eine der herausforderndsten Momente meines Lebens. (…) Ich will es nicht noch einmal erleben, es war ein Albtraum, der nie endete. (...)" (Zitate der PatientInnen). In der dritten Sitzung schienen die PatientInnen ihre Erinnerungen neu zu organisieren, eine Kontinuität zu entwickeln und sich selbst zu restituieren: „Wie ich auf die Intensivstation gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Aus den Erzählungen meiner Verwandten erfuhr ich, dass ich nicht atmen konnte, also wurde ich auf der Intensivstation intubiert. An die ersten vier Tage erinnere ich mich an nichts." (Zitate der PatientInnen). Die AutorInnen folgerten, dass ein solches konstruiertes Tagebuch dazu beitragen kann, eine Selbstkontinuität wiederherzustellen.

Zisopoulos G, Triliva S, Roussi P. Processing Intensive Care Unit Treatment Experiences: A Thematic Analysis of a Diary Intervention. Qual Health Res. 2021 Dec 2: 10497323211055459.

Tagebücher für Trauernde

Manchmal sterben PatientInnen auf der Intensivstation und den Familien können Tagebücher angeboten werden. Melby et al (2020) aus Norwegen befragten 6 trauernde Familienmitglieder 6-18 Monate nach der Intensivstation. Nach der Analyse der Interviews fanden die AutorInnen heraus, dass alle Verwandten mit Trauer zu tun hatten und Tagebücher von den Familien geschätzt wurden. Das Lesen eines Tagebuchs stimuliert intensive Gefühle, wie das Gefühl einer Herausforderung, Schock oder Angst, aber keiner der Angehörigen lehnte das Tagebuch ab. Fotos im Tagebuch wurden als wertvoll wahrgenommen und sie zu betrachten war eine kraftvolle Erfahrung. Die Lektüre über die Pflege des geliebten Menschen bedeutete ihnen sehr viel: „Ein/e PatientIn wurde nicht nur als PatientIn, sondern als lebender Mensch beschrieben.", und verschiedenen Handschriften zeigten, dass sich verschiedene MitarbeiterInnen um die Menschen kümmerten. Das Tagebuch half ihnen, eine zeitgemäße Struktur aufzubauen und ihre Gefühle zu lindern. Die AutorInnen schlussfolgern: „Wenn PatientInnen auf der Intensivstation sterben, können Intensivtagebücher die Hinterbliebenen während des Trauerprozesses unterstützen."

Melby, A.C., Litler Moi, A., Gjengedal, E., 2020. The experiences of bereaved relatives on receiving the intensive care diaries of their loved ones. Nor. J. Clin. Nursing/ Sykepleien Forsk 15, 1–17.

Digitale Tagebücher

Margo van Mol et al (2021) aus den Niederlanden stellten während der virtuellen Konferenz des BACCN ein Forschungsprojekt vor. In den Niederlanden werden die meisten Tagebücher von Familien mit Papier und Stift geschrieben. Während Covid-19 wurde eine digitale Version des Tagebuchs notwendig, um Familien von PatientInnen auf der Intensivstation Tagebücher zur Verfügung zu stellen. Daher wurde eine webbasierte Anwendung POST-ICU-Diary für Familien und Pflegekräfte entwickelt. Um das Projekt zu bewerten, interviewte das Team 14 Pflegenden aus 3 Krankenhäusern. Nach der Analyse der Interviews fanden die ForscherInnen wichtige Themen wie Umsetzung, Covid-19, Effizienz, Motivation und Nachhaltigkeit. Die Pflegenden schätzten die webbasierte Version, erwähnten aber auch Schwierigkeiten beim Zugang, Zeitmangel und Zögern beim Schreiben von Kurznachrichten. Digitale Tagebücher sind der nächste Schritt, aber es bedarf weiterer Forschung, wie diese Technologie am besten in die Praxis umgesetzt werden kann.

Van Mol M, Haakma T, Sleven B, Buise M. An exploration of nurses experiences with a digital diary in the adult intensive care unit. Nursing in Critical Care 2021 (26) S1: 12-13.

Weltweite Nutzung von Intensivtagebüchern

Wir haben eine kurze Zusammenfassung der Prävalenzstudien im Zusammenhang mit der Verwendung von Intensivtagebüchern erstellt. Einige Studien, insbesondere aus Skandinavien, untersuchten alle nationalen Intensivstationen; andere Studien, z.B. Deutschland, befragten nur wenige Bundesländer und extrapolierten die Verwendung von Tagebüchern. Deutschland und Norwegen hatten wiederholte Messungen. Es gibt insgesamt eine gewisse Heterogenität, aber es ist wahrscheinlich, dass Tagebücher weit verbreitet sind. Falls wir ein Land und eine Studie übersehen haben, lasst es uns bitte wissen.

Angrenzende Studien

PTBS Pocketcard

Johnston-Brooks et al ( 2021) entwickelten eine Pocketcard für die Beurteilung und Behandlung von PTBS und leichten traumatischen Hirnverletzungen. Es ist eine sehr gute Idee, die Klinikern in der täglichen Praxis helfen kann, aber natürlich ersetzt diese Pocketcard nicht die Richtlinien für die klinische Praxis.

Johnston-Brooks C, Miles S, Broston D. Clinician Pocket Card for the Assessment and Management of PTSD and mTBI. Archives of Physical Medicine and Rehabilitation, Volume 100, Issue 12, December 2019, Page e171.

50 Jahre Intensivmedizin

Mart et al. (2021) veröffentlichten einen Rückblick auf die letzten 50 Jahre Intensivmedizin und ihre Entwicklungen. Die Critical Care Medicine hat sich in den letzten fünfzig Jahren weiterentwickelt und immer mehr Leben konnten gerettet werden. Das Überleben ist jedoch nicht die Garantie für ein gutes Leben danach. Delir, zunächst als tolerierte Nebenwirkung betrachtet und oft übersehen, hat eine Dosis-Wirkungs-Beziehung für erhöhte Risiken von Demenz und Mortalität. Technische Vorteile der mechanischen Beatmung führten zu neuartigen Therapien von ARDS, aber auch zu immer mehr PatientInnen, die gegen das Beatmungsgerät kämpften. Das Konzept der tiefen Sedierung und oft auch Immobilisierung wurde entwickelt, um PatientInnen zu beruhigen und sie vor Stress zu schützen. Aber die mentale Immobilisierung führte zur körperlichen Immobilisierung und schließlich zu einer auf der Intensivstation erworbenen Schwäche. Die Folgen der Intensivmedizin können für einzelne PatientInnen jahrelang andauern und körperliche, geistige, psychologische und soziale Aspekte beeinflussen. Auch die Familie ist betroffen. In den letzten zehn Jahren gab es eine Verschiebung von Opfern zu Überlebenden, hin zur Mobilität, hin zu wachen, teilnehmenden PatientInnen, entscheidenden PatientInnen, bei denen die Rehabilitation auf der Intensivstation beginnt. PatientInnen- und familienzentrierte Pflege versucht, auf die Bedürfnisse von PatientInnen und Familien einzugehen und sie frühzeitig zu rehabilitieren.

Mart MF, Pun BT, Pandharipande P, Jackson JC, Ely EW. ICU Survivorship-The Relationship of Delirium, Sedation, Dementia, and Acquired Weakness. Crit Care Med. 2021 Aug 1; 49(8): 1227-1240.

Virtuelle Realität zur Verringerung von PICS?

In einer mulitzentrischen Machbarkeitsstudie untersuchten Vlake et al. (2021), ob eine Exposition mit der Situation auf der Intensivstation für ehemals kritisch kranke PatientInnen hilfreich ist, um die psychischen Langzeitfolgen zu verringern. Die PatientInnen wurden in zwei Gruppen randomisiert, wobei eine Gruppe mithilfe einer VR-Brille in das Erleben auf der Intensivstation zurückgeführt wurde und die andere Gruppe Naturbilder betrachtete. In der Gruppe, die mit der Umgebung der Intensivstation und dem Erleben konfrontiert wurde, berichteten die PatientInnen 1 und 6 Monate nach der Intervention über eine geringere Belastung mit posttraumatischen Belastungssymptomen und Symptomen einer Depression. Die AutorInnen regen weitere Studien an, um zu untersuchen, zu welchem Zeitpunkt und mit welcher Frequenz der Einsatz der VR-Technik sinnvoll ist, um die psychische Belastung zu senken.

Vlake JH, Van Bommel J, Wils EJ, Korevaar TIM, Bienvenu OJ, Klijn E, Gommers D, van Genderen ME. Virtual Reality to Improve Sequelae of the Postintensive Care Syndrome: A Multicenter, Randomized Controlled Feasibility Study. Crit Care Explor. 2021 Sep 14; 3(9): e0538. doi: 10.1097/ CCE.0000000000000538.

Videobesuche reduzieren Angst bei COVID-19-PatientInnen und deren Angehörigen

Während der Pandemie bestehen auf vielen Intensivstationen Besuchsverbote. Kebapci und Türkmen (2021) untersuchen den Einfluss strukturierter Videobesuche auf das Angstempfinden von COVID-19-PatientInnen und deren Angehörigen. Dazu riefen sie Angehörige täglich an, bereiteten sie auf die aktuelle Situation des PatientInnen im Videobesuch vor und führten dann das Video durch. Zu den einführenden Informationen gehörten die Art Atemunterstützung sowie Informationen zur Sedierungstiefe. Mit einer visuellen Analogskala bzw. der Faces Anxiety Scale (bei intubierten PatientInnen) wurde Angst vor und nach dem Videotelefonat bei PatientInnen und Angehörigen erhoben. Das Angsterleben von PatientInnen und Angehörigen war nach den Videobesuchen signifikant geringer als davor, teilweise sogar nur halb so hoch wie vorher (Reduktion von 6 auf 3 auf der VAS). Das Angebot strukturierter Videobesuche sollte daher integraler Bestandteil der Kommunikation und der Kontaktunterstützung auf Intensivstationen (und sicherlich auch auf allen anderen Stationen des Krankenhauses) während BesucherInnenrestriktionen sein.

Kebapcı A, Türkmen E. The effect of structured virtual patient visits (sVPVs) on COVID-19 patients and relatives' anxiety levels in intensive care unit. J Clin Nurs. 2021 Nov 26. doi: 10.1111/jocn.16117. Epub ahead of print. PMID: 34837436.

Tagebücher schreiben während der Pandemie – was hat sich verändert?

Während der Pandemie verändert sich das Tagebuchschreiben in den Kliniken. Wie ist es in Eurer Klinik? Habt Ihr das Tagebuchschreiben während der Pandemie vielleicht sogar begonnen? Wir freuen uns über Rückmeldungen aus der Praxis wie das Schreiben von Intensivtagebüchern auch während der Pandemie mit Besucherbeschränkungen und Personalveränderungen auf Intensivstationen gelingen kann. Schreibt uns einfach an!




Verfasst von:

Dr. Peter Nydahl, RN BScN MScN, Pflegeforschung; Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel

Dr. Teresa Deffner, Dipl.-Rehapsych. (FH), Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Jena

Kristin Gabriel, Dipl. Medienwirtin, BA Kunsthistorikerin, Köln

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