Paradoxes Objekt

Studien zum Tagebuch

Implementierung und Durchführbarkeit digitaler Tagebücher auf niederländischen Intensivstationen während der Pandemie

Intensivtagebücher konnten während der Pandemie durch die BesucherInnenbeschränkungen nicht wie gewöhnlich mit den Angehörigen gemeinsam geführt werden. Auf drei niederländischen Intensivstationen wurden daher digitale Intensivtagebücher geführt und die Erfahrungen der Pflegenden mit diesen Tagebüchern untersucht. Haakma und KollegInnen (2022) interviewten insgesamt 14 Pflegende, die digitale Tagebücher schrieben in Fokusgruppen. Während des Besuchsverbotes stellte das digitale Tagebuch eine Möglichkeit dar, mit den Angehörigen in Verbindung zu sein und sie durch das Führen des Tagebuches zu unterstützen. Allerdings merkten die Pflegenden auch an, zu wenig Zeit für das Verfassen von Einträgen zu haben. Zudem war die Nutzerfreundlichkeit des digitalen Tagebuches nicht hoch genug.

Haakma T, Tieben R, Sleven B, Buise M, van Mol M. Experiences of nurses with an innovative digital diary intervention in the intensive care unit: A qualitative exploration. Intensive Crit Care Nurs. 2022 Jan 25:103197. doi: 10.1016/ j.iccn.2022.103197.

Intensivtagebücher sollten regelhaft im klinischen Alltag eingesetzt werden

In einer kurzen Übersicht fasst Janssens (2022) die zentralen Ergebnisse der Tagebuchstudie von Barreto et al (2021) zusammen. In diesem systematischen Review wurden die qualitativen Daten zu PatientInnenwahrnehmung von Intensivtagebüchern analysiert. Janssens stellt die Ergebnisse übersichtlich dar und nennt als zentrale Punkte: 1) die meisten PatientInnen finden das Tagebuch hilfreich. 2) Mitarbeitende aus allen Gesundheitsberufen und Angehörige sollten Einträge verfassen. 3) Das Tagebuch sollte den täglichen Behandlungsfortschritt und die emotionale Beteiligung von Mitarbeitenden und Angehörigen dokumentieren. Ein schlüssiges Wirkmodell des Intensivtagebuch steht nach wie vor aus. Dennoch sollte das Tagebuch basierend auf der bestehenden Evidenz als Instrument unbedingt regelhaft im klinischen Alltag eingesetzt werden.
Janssens U. PatientInnenwahrnehmung von Intensivtagebüchern. IntensivNews 1 (2022) 22-24

Eine Geschichte mit Lücken: Funktion des Intensivtagebuches aus Sicht von PatientInnen

Wie PatientInnen ihren Aufenthalt auf der Intensivstation retrospektiv beschreiben und welche Rolle das Intensivtagebuch für sie hat, das untersuchen Flahault und Kollegen in einer phänomenologischen Analyse (2022). Insgesamt 5 ehemalige PatientInnen wurden ein halbes Jahr nach ihrem Aufenthalt auf der Intensivstation zu ihren Erfahrungen interviewt. Die PatientInnen hatten einen eher kürzeren Aufenthalt auf der Intensivstation (max. 13 Tage). Bezogen auf das Tagebuch berichten sie unterschiedliche Erfahrungen. Daraus schließen die AutorInnen, dass das Intensivtagebuch ein „paradoxes Objekt“ ist. Einerseits meiden PatientInnen das Lesen darin aufgrund einer insgesamt bestehenden Vermeidung, sich mit den belastenden Aspekten der intensivmedizinischen Behandlung auseinander zu setzen. Andererseits hilft es ihnen ein Narrativ der Erkrankung zu bilden und sich der Unterstützung der Angehörigen bewusst zu werden. Die AutorInnen empfehlen, die Wirkung der Tagebücher auf PatientInnen und Familien während der Genesung der PatientInnen genau zu untersuchen. Daraus sollten Empfehlungen abgeleitet werden, in welcher Form den PatientInnen die Tagebücher zur Verfügung gestellt werden, damit sie den optimalen Nutzen davon haben.

Flahault C, Vioulac C, Fasse L, Bailly S, Timsit JF, Garrouste-Orgeas M. "A story with gaps": An interpretative phenomenological analysis of ICU survivors' experience. PLoS One. 2022 Mar 3;17(3):e0264310. doi: 10.1371/journal.pone.0264310.

Angrenzende Studien

PatientInnen schreiben Tagebuch in der Reha?

PatientInnen leiden nach kritischer Erkrankung häufig an kognitiven Störungen wie beispielsweise der Mnestik. Kirsten Martin hatte als Ärztin in der Rehabilitation die Idee die PatientInnen-Tagebücher als Memorystrategie schreiben zu lassen. Die PatientInnen sollten dabei drei Einträge pro Tag verfassen, um sich an die Inhalte der Therapien und die medizinischen Ziele für den Tag erinnern zu können. Zudem wurde durch die TherapeutInnen die Metakognition der PatientInnen fortlaufend überprüft um ihnen die bestehenden Defizite zu zeigen und die Arbeit an kognitiven Defiziten zu unterstützen. Die Tagebücher wurden laut Martin intensiv von den PatientInnen und auch vom Personal sowie den Angehörigen genutzt und zeigen damit ein weiteres Einsatzgebiet von Tagebüchern außerhalb der Intensivstation.

Martin K. (2018) Memory Diaries after Delirium.

Auswirkungen der MBSR-Therapie bei PatientInnen kurz nach Verlegung von der Intensivstation: Studienprotokoll

Chen und KollegInnen veröffentlichen ein Studienprotokoll, mit welchem sie PatientInnen direkt nach Intensivaufenthalt mithilfe MBSR unterstützen wollen. MBSR ist ein achtsamkeitsbasiertes Verfahren zur Stressreduktion. Die teilnehmenden PatientInnen absolvieren mehrere Einheiten des MBSR, so zum Beispiel den Body Scan oder ein Atemtraining. Endpunkte sind selbst berichtete Angst und Depressivität. Die PatientInnen werden randomisiert in eine Interventions- und eine Kontrollgruppe eingeteilt. Die Studie ist vielversprechend, schließt aber leider aufgrund sehr enger Einschlusskriterien sehr relevante PatientInnengruppen aus (u.a. keine kognitive Beeinträchtigung, keine psychische Vorerkrankung, erster Intensivaufenthalt). Wir sind auf die Ergebnisse gespannt.

Chen Y, Wang R, Yu J, Zhu L, Lu Y, Deng X. Effects of MBSR therapy on negative emotions, fatigue, and sleep quality in "post-ICU patients": A randomized controlled clinical trial protocol. Medicine (Baltimore). 2022 Jan 7;101(1):e28331. doi: 10.1097/MD.0000000000028331.

Angehörige von PatientInnen mit COVID-ARDS haben eine hohe Prävalenz für Symptome einer PTSD

In einer prospektiven Beobachtungsstudie auf 23 Intensivstationen in Frankreich verglichen Azoulay et al. die psychische Folgebelastung von Angehörigen von PatientInnen nach C-ARDS und anderweitig verursachten ARDS. Über 300 ehemalige Angehörige von an C-ARDS erkrankten Patienten und ca. 270 Angehörige von Patienten, die aus anderen Gründen ein ARDS erlitten hatten, gaben nach 90 Tagen Auskunft über ihr psychisches Befinden: Angehörige von PatientInnen, die an COVID erkrankt waren, hatten mit 35% eine signifikant höhere Prävalenz für Symptome einer PTSD (Angehörige von PatientInnen ohne C-ARDS 19%) auch nach Adjustierung für Alter, Geschlecht und sozialer Unterstützung. Sie konnten den PatientInnen häufig nicht besuchen (Besuch bei C-ARDS in 35% der Fälle vs 88% bei nicht C-ARDS) und nur telefonisch mit der Intensivstation in Kontakt sein, da es nur selten Angebote zur Videotelefonie gab. Angehörige von PatientInnen mit C-ARDS haben, verglichen mit Angehörigen von PatientInnen, die aus anderen Gründen ein ARDS erlitten haben, ein höheres Risiko für Symptome einer PTSD 90 Tage nach intensivmedizinischer Behandlung des PatientInnen.

Azoulay E et al. Association of COVID-19 Acute Respiratory Distress Syndrome With Symptoms of Posttraumatic Stress Disorder in Family Members After ICU Discharge. JAMA. 2022 Feb 18. doi: 10.1001/jama.2022.2017.

Posttraumatisches Wachstum wird durch soziale Unterstützung, Dankbarkeit und Resilienz vorhergesagt

Posttraumatisches Wachstum ist eine mögliche Entwicklung, die Betroffene nach einem potentiell traumatisierenden Ereignis nehmen können. Lin und KollegInnen haben untersucht, welche Prädiktoren das posttraumatische Wachstum bei Familienangehörigen von intensivmedizinisch behandelten PatientInnen vorhersagen. 340 Familien wurden mit mehreren Instrumenten zur Erfassung von posttraumatischem Wachstum, Resilienz, sozialer Unterstützung und Hoffnung befragt. Ein Regressionsmodell konnte zeigen, dass Dankbarkeit, Resilienz und soziale Unterstützung posttraumatisches Wachstum vorhersagen. Daraus schließen die Autoren, dass die Coping-Strategien von Angehörigen unbedingt unterstützt werden sollten, um deren Resilienz und das Empfinden von Hoffnung und damit die Wahrscheinlichkeit für posttraumatisches Wachstum nach der kritischen Erkrankung des Patienten/der Patientin aufseiten der Familie zu erhöhen.

Lin Q, Dong F, Xue Y, Yu Q, Ren J, Zeng L. Predictors of posttraumatic growth of the family members of neurosurgical intensive care unit patients: A cross-sectional study. Intensive Crit Care Nurs. 2022 Feb;68:103134. doi: 10.1016/j.iccn.2021.103134.

Humanisierte Intensivmedizin

In einem beeindruckend übersichtlichen und gleichzeitig differenzierten Manual haben spanische IntensivmedizinerInnen (und Pflegende?) strategische Ziele für die Humanisierung der Intensivmedizin vorgeschlagen und geben dabei konkrete Empfehlungen basierend auf aktueller Evidenz. Intensivstationen können sich mit Umsetzung der Empfehlungen zertifizieren lassen. Die Systematik der Literaturrecherche des Manuals wird dabei nicht expliziert.

Die Empfehlungen beziehen sich auf die Bereiche:

  • Intensivstation mit offenen Türen: Präsenz und Einbezug der Familie

  • Kommunikation: im Team, mit dem Patienten/der Patientin und der Familie

  • Wohlbefinden des Patienten/der Patientin: physisch, psychisch, Autonomie des Patienten/der Patientin fördern

  • Unterstützung des Personals

  • PICS: Prävention und Management von PICS, Follow-Up

  • End-of-Life-Care

  • Humanisierte Umgebung: Privatsphäre des Patienten/der Patientin, Ruhezonen für Familien und Personal, Nutzung von Gärten und ähnlichen Umgebungen

Ein Manual, das dringend für den deutschsprachigen Raum übersetzt und adaptiert werden sollte, z.B. als Erweiterung zum Zertifikat „Angehörigenfreundliche Intensivstation“.

Certification work group HU-CI Project. Manual of good practices to humanise intensive care units. Madrid: HU-CI Project; 2019 [access 22 May 2019].


Verfasst von:

Dr. Peter Nydahl, RN BScN MScN, Pflegeforschung; Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel

Dr. Teresa Deffner, Dipl.-Rehapsych. (FH), Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Jena

Kristin Gabriel, Dipl. Medienwirtin, BA Kunsthistorikerin, Yogalehrerin, Köln

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Tagebücher in der pädiatrischen Intensivstation

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Erfahrungen