Für Fachpublikum: Das Intensivtagebuch senkt das Risiko für PTBS, Angst und Depression

Reaktionen auf einen Intensivaufenthalt

IntensivpatientInnen können nach dem Aufenthalt erhebliche physische, psychische wie auch soziale Probleme haben. PatientInnen leiden unter Kurzatmigkeit, Muskelschwäche, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Impotenz oder Gelenkschäden. Sie zeigen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, leiden unter Angst, Depressionen oder auch unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB). Gleichzeitig haben PatientInnen nur wenige bis verschwommene Erinnerungen an die Zeit des Aufenthaltes und unter Sedierung und Beatmung kommt es zu dem Phänomen der traumhaften, aber als real erinnerten Gedächtnisinhalte (engl: delusional memories). PatientInnen können im Nachhinein nur schwer zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden, halten Geträumtes für wahr und umgekehrt. Angehörige sind genauso mitbetroffen.

Ehem. IntensivpatientInnen nach einem Jahr (Desai  2011, Needham 2012) zeigen

  • 50% neuromuskuläre Schwäche

  • 50% Abhängigkeit in den ADL

  • 28% Depressionen

  • 24% Angst

  • 22% Posttraumatische Belastungsstörung

Familienangehörige nach 2-6 Monaten (Davidson et al., 2011) zeigen

  • 40% Angststörungen

  • 35% Posttraumatische Belastungsstörung

  • 23% Depressionen

  • 5-46% komplizierte Trauer

Der Symptomkomplex wird als „Post Intensive Care Syndrom“ bezeichnet.

„Die Soziale Gesundheit kann nach einem Intensivaufenthalt verändert sein und sollte als Teil des Post Intensive Care Syndroms berücksichtigt werden.“

– Dr. Peter Nydahl, RN BScN MScN, Pflegeforschung; Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Kiel

Definition

Das Intensivtagebuch ist ein Tagebuch, das während der Zeit der Bewusstseinsstörung eines/r PatientIn von Pflegenden und Angehörigen geführt wird und in dem meist Ereignisse und Entwicklungen beschrieben werden. PatientInnen können später das Tagebuch lesen und damit die Zeit während seiner Bewusstlosigkeit rekonstruieren und verstehen.

Indikation

PatientInnen mit einer Bewusstseinsstörung ≥ 3 Tagen. Erweiterte Indikation:

  • PatientInnen mit vorübergehender Bewusstseinsstörung ohne Sedierung oder Beatmung

  • Eltern Frühgeborener (vgl. Ansorge 2011)

  • Angehörige Sterbender

Kontraindikation

Keine bekannten, aber sinnlos bei allen PatientInnen, die die Sprache nicht verstehen können. Bei fremdsprachigen PatientInnen können ggf. die Angehörigen schreiben.

Beginn

Ab 1. Tag, auch retrospektiv ab 3. Tag

Dauer

Keine Evidenz für eine bestimmte Dauer. Empfehlung: auch nach Verlegung weiter schreiben (lassen)

Frequenz

Zu Beginn 1-3x täglich Schreiben, bei stabilen Verläufen 1 / Tag

Eintragende Personen

Nahe Angehörige, Pflegende, ÄrztInnen, TherapeutInnen, Besucher u.a.

Schreibstil

Als würde man den/die PatientIn direkt ansprechen. Sinnvoll: gelegentlich reflexive Fragen, die mit Umweltbeschreibungen kombiniert werden (siehe unten).

Inhalte

  • 1. Eintrag: Zusammenfassung der Ereignisse, die zum Aufenthalt führten

  • Täglicher Zustand, Ereignisse, Entwicklungsschritte, Besuche

  • Weiter nach Interessen und Verantwortungen des/der PatientIn (Familie, Haustiere, Arbeit, Fußball, Börse u.a.)

Intensivtagebuch_ITS_Kinder_Rodigast_UKJ_1

Bildrechte: Rodigast/ UKJ

 
Intensivtagebuch_ITS_Kinder_Rodigast_UKJ_2

Bildrechte: Rodigast/ UKJ

Definition

Das Intensivtagebuch ist ein Tagebuch, das während der Zeit der Bewusstseinsstörung eines/r PatientIn von Pflegenden und Angehörigen geführt wird und in dem meist Ereignisse und Entwicklungen beschrieben werden. PatientInnen können später das Tagebuch lesen und damit die Zeit während seiner Bewusstlosigkeit rekonstruieren und verstehen.

Indikation

PatientInnen mit einer Bewusstseinsstörung ≥ 3 Tagen. Erweiterte Indikation:

  • PatientInnen mit vorübergehender Bewusstseinsstörung ohne Sedierung oder Beatmung

  • Eltern Frühgeborener (vgl. Ansorge 2011)

  • Angehörige Sterbender

Kontraindikation

Keine bekannten, aber sinnlos bei allen PatientInnen, die die Sprache nicht verstehen können. Bei fremdsprachigen PatientInnen können ggf. die Angehörigen schreiben.

Fotos

  • Nach Studienlage sehr sinnvoll

  • Rechtliche Lage in Deutschland: keine Fotos von nicht einwilligungsfähigen PatientInnen

  • Empfehlung: mit allgemeinen Demo-Bildern arbeiten oder ab einwilligungsfähiger Aufwachphase

  • Wenn Fotos: PatientIn ist mit anderen zusammen zu sehen („Ich war da nicht alleine!“)

Übergabe an den/die PatientIn

  • Evidenz für Nachsorgegespräch mit PatientInnen, in Deutschland noch nicht etabliert.

  • Empfehlung: Angehörigen mitgeben und PatientIn selbstbestimmt lesen lassen, denn: Eine Konfrontation mit dem Tagebuch ist kontraindiziert.

Nebenwirkungen

  • Aufregung, auch berührtes Weinen des/der PatientIn beim ersten Lesen

  • Keine Flashbacks, eher Milderung

Nachweise zur Evidenz

  • Das Tagebuch hilft, die verlorene Zeit der Beatmung zu rekonstruieren (Bergboom et al. 1999, Combe 2005, Robson 2008, Storli, Lind 2007)

  • Das Intensivtagebuch senkt das Risiko für eine PTBS, Angst & Depressionen (Jones et al. 2010, Knowles & Tarrier 2009)

  • Das Tagebuch fördert den Kohärenzsinn: Verstehen, Begreifen, Sinn geben (Engström et al 2009)

  • Das Tagebuch verbessert die Lebensqualität von ehem. IntensivpatientInnen - auch noch nach drei Jahren (Bäckman et al. 2010)

  • PatientInnen und Angehörige bewerten das Tagebuch positiv bis sehr positiv (Bergboom et al. 1999, Bäckmann et al. 2000, Robson, 2008)

  • Das Intensivtagebuch senkt das Risiko für eine PTBS bei Angehörigen (Jones, Bäckmann et al. 2012)

  • Das Tagebuch fördert die Kommunikation in der Familie (Combe 2005)

  • Das Tagebuch hilft Hinterbliebenen bei der Trauerverarbeitung (Roulin 2007)

  • Tagebuch schreiben erfüllt durch die Anteilnahme die Kriterien einer pflegerischen Aktivität (Roulin et al. 2007)

  • Tagebücher sind etwas Anderes als pflegerische Dokumentation (Egerod, Christensen, 2010)

  • Tagebücher sind in Skandivavien weit verbereitet, ca. 40% (Egerod, Storli, Akermann 2011)

  • Pflegende wertschätzen das Tagebuch, jüngere MitarbeiterInnen haben eher Nähe-Distanzprobleme als ältere MitarbeiterInnen (Perier et al., 2013)

  • Ein Ersteintrag in deutschsprachigen Tagebüchern dauert durchschnittlich 9 Minuten, Folgeeinträge 5,5 Minuten (Nydahl et al., 2013)

Intensivtagebuch_ITS_Kinder_21-05-21_32.jpg

Bildrechte: Rodigast/ UKJ

Hinweise zur Umsetzung

Das Intensivtagebuch ist in Skandinavien und England weit verbreitet und wird dort seit mehr als 20 Jahren erfolgreich umgesetzt. In Deutschland beginnen seit 2008 einige Intensivstationen damit, das Tagebuch einzuführen. Zur Umsetzung gibt es verschiedene theoretische Modelle. Im deutschsprachigen Raum scheint es sinnvoll zu sein, die bürokratischen Strukturen zu berücksichtigen (Knück, Nydahl, 2010) sowie Barrieren identifizieren und bewältigen zu müssen (vgl. Nydahl, 2011, de Souza-Talarico 2021).

  1. Team bilden mit den beteiligten Personen, ein Ziel entwickeln und dies mit dem Team absprechen: brauchen wir das? Es sind durchaus Bedingungen denkbar, unter denen eine Implementierung ungünstig ist (z.b. während eines Umbaus, Teamfusionen usw.). Es müssen auch Einverständnisse eingeholt werden.

  2. Baseline messen: wie ist der Jetzt-Zustand (wie viele Tagebücher gibt es zurzeit auf Station?), wie ist der Bedarf (fragen PatientInnen und Familien nach, berichten sie von Alpträumen, Depressionen usw?)

  3. Barrieren: Was sind die Barrieren gegen die Implementierung von Tagebüchern auf dieser Intensivstation? Fragen Sie Ihre KollegInnen, die Leitung und sammeln Sie die Aspekte. Fragen Sie auch: Wie können diese Barrieren überwunden werden? Machen Sie eine Liste mit allen Barrieren und überlegen Sie, wie jede einzelne Barriere überwunden werden kann.

    Beispiel: Barriere Zeitmangel und Überwindung der Barriere:

    • Tagebücher werden nur für ganz wenige Personen geschrieben, nicht für alle

    • Einträge werden in der Überlappungszeit geschrieben, wenn sowieso mehr Personal da ist

    • Es gibt Vorlagen für Tagebucheinträge, damit das Schreiben nicht so schwer fällt

    • Es soll in einer kleinen Untersuchung gemessen werden, wie viel Zeit tatsächlich benötigt wird

    • Wenn es mal stressig wird, können Tagebucheinträge auch später nachgeholt werden

    • Die Angehörigen werden gebeten, den zeitlich aufwendigen Ersteintrag zu schreiben. Damit haben Sie genügend Strategien, um die Barriere zu überwinden.

      Gehen Sie mit anderen Barrieren genauso um.

  4. Messen Sie die Veränderung: wie viele Tagebücher konnten in einem bestimten Zeitraum geschrieben werden, gab es weitere Fragen oder Probleme? Wie haben sich PatientInnen und Familien dazu geäußert? Geben Sie das Feedback in das gesamte Team!

  5. Verankern Sie das Tagebuch, ggf. nach Überarbeitung, und implementieren Sie es in den Einarbeitungskatalog, legen Sie Flyer aus, Demo-Tagebücher, weisen Sie in der Krankenhauszeitschrift, Tageszeitung, Fachartikel darauf hin. Ggf. führen Sie lfd. Evaluation durch: PatientInnen & Angehörige befragen, Kennzahlen (wie viele Tagebücher wurden im ersten Jahr geschrieben, wie viele an PatientInnen übergeben usw.)