Für Angehörige: Tagebuchschreiben ist eine wirksame Bewältigungsstrategie

Gesund werden –
Verstehen, Handhaben, Sinn geben

Aaron Antonovsky hat sich mit der Frage beschäftigt, warum Menschen trotz schwerer Krankheit überleben. Seine Frage war nicht: Warum werden Menschen krank? Sondern: warum bleiben und werden Menschen gesund? Nach Antonovskys Ansatz der „Salutogenese“ sind wir nie vollständig gesund oder krank, sondern bewegen uns auf einem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit. Mal sind und fühlen wir uns kränker, mal gesünder. Wir fühlen uns wohl, wenn wir uns auf diesem Kontinuum in der Mitte bewegen. Um die Widerstände im Leben zu bewältigen, benötigen wir den sogenannten Kohärenzsinn. Dies ist eine Fähigkeit, mit Problemen umgehen zu können und sie zu bewältigen. Der Kohärenzsinn besteht aus drei Aspekten: dem Verstehen, dem Handhaben und dem Sinn geben. Wenn wir etwas verstehen können, können wir es auch handhaben, bzw. damit umgehen, es managen. Und wenn wir etwas managen können, können wir ihm auch einen Sinn geben. Anders herum: wenn wir etwas nicht verstehen, können wir nicht damit umgehen und auch keinen Sinn darin finden.

Mit einer schweren Erkrankung verhält es sich nicht anders: wir müssen die Erkrankung verstehen können, ihr einen Namen geben und verstehen können, warum durch sie bestimmte Dinge nicht mehr möglich sind oder warum andere Sachen heute wichtig werden.

Wir müssen verstehen, wo die Veränderung herkommt und wie es dazu gekommen ist. Dann können wir die Krankheit und das dadurch veränderte Leben auch besser managen und in den Griff kriegen, die Alltagsprobleme bewältigen und dem Leben mehr Leben abgewinnen. Schließlich sind wir dann auch eher in der Lage, trotz schwerer und vielleicht lebenslanger Erkrankung einen neuen Sinn in diesem Leben zu finden. Wir geben Dingen und Personen eine neue oder andere Bedeutung, wir lernen, damit klar zu kommen. Wir bewegen uns auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum wieder ein Stück weit Richtung Gesundung. Wir verstehen die Krankheit, wir lernen, damit umzugehen, wir finden einen Sinn darin. Wir werden gesünder.

Antonovskys Ansatz der Salutogenese hielt vor vielen Jahren auch in die Intensivpflege Einzug. In Skandinavien wurde dieser Idee Rechnung getragen indem Pflegende und Angehörige bereits während der ersten Phase der intensivmedizinischen Behandlung in einem PatientInnentagebuch täglich aufgeschrieben haben, was geschehen ist, damit der/die PatientIn später, wenn er wieder wach wird, nachlesen kann, was alles passiert ist. Seit 2008 werden zunehmend auch in Deutschland Intensivtagebücher von Pflegenden und Angehörigen für IntensivpatientInnen geführt.

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Ein Intensivtagebuch schreiben

Das Tagebuch wird seit 2008 in Deutschland eingeführt, d.h. es ist immer noch nicht flächendeckend implementiert und nicht überall zu finden. Das größte Problem sind hierbei Zeit- und Personalmangel. Dennoch kann es vorkommen, dass für einen schwerkranken PatientInnen so ein Tagebuch bereits auf der Intensivstation begonnen worden ist und evtl. in der Rehaklinik weitergeführt worden ist. Wir wissen aber auch, dass die meisten Angehörige sowieso während der Intensivzeit ihre eigenen Tagebücher in Form von Notizen und Notizheften führen. So eine „private“ Sammlung kann für Patienten wie auch Sie selbst sehr hilfreich sein, um die Zeit zu verarbeiten. Wenn auf der Intensivstation, auf der sich der/die PatientIn befindet, noch kein Intensivtagebuch geschrieben wurde, können Sie einfach damit beginnen. Holen Sie sich einen Hefter oder ein dickes Notizheft und schreiben Sie vorne drauf „Intensivtagebuch von...“ und den Namen.

Fragen Sie die Pflegenden, ob Sie das Tagebuch am Bett des/der PatientIn lassen können und bitten Sie die Pflegenden und anderen MitarbeiterInnen, etwas einzutragen, wenn sie die Zeit dazu finden. Es ist in Deutschland schon mehrfach vorgekommen, dass es die Angehörigen waren, die ein Tagebuch auf einer Intensivstation eingeführt haben.

Beachten Sie dabei, nicht zu privat oder intim zu schreiben, denn es kann sehr gut sein, dass andere Personen das lesen, was Sie geschrieben haben, z.B. andere Besucher oder Mitarbeiter, die selbst etwas reinschreiben. Sollten Sie dennoch das Bedürfnis haben, etwas zu schreiben, was Ihnen aber gleichzeitig peinlich sein könnte, wenn andere es lesen, dann schreiben Sie lieber zuhause ein zweites Tagebuch.

Die Wirkung von Bildern im Intensivtagebuch

In einigen Studien wurden auch Fotos von PatientInnen auf Intensivstationen gemacht - diejenigen PatientInnen, die diese Fotos später sehen wollten, fanden es sehr hilfreich, um alles zu verstehen. Andere PatientInnen finden solche Fotos vielleicht erschreckend. Man kann also kein pauschales Urteil abgeben, ob es sinnvoll ist, Fotos zu machen. Hinzu kommt, dass Sie nur dann Fotos machen dürfen, wenn die PatientInnen selbst einverstanden sind. Rechtlich brauchen Sie das Einverständnis, selbst wenn Sie verheiratet sind. Gesetzliche Bevollmächtigte, gesetzliche VertreterInnen und andere benötigen eine gesonderte Genehmigung zur Erlaubnis von Bildmaterial.

Wenn die PatientInnen also wieder wacher und geschäftsfähig sind und zustimmen, dann können Sie Fotos machen. Wenn der/die PatientIn also wieder wacher ist und zustimmt, dann können Sie Fotos machen.

Achten Sie dabei darauf, dass der/die PatientIn nicht alleine auf dem Foto zu sehen ist, sondern Sie oder andere Personen mit zu sehen sind - sonst denkt der/die PatientIn später, er/sie wäre alleine dort gewesen.

Kleben Sie die Fotos noch nicht in das Tagebuch, sondern warten Sie damit, bis der/die PatientIn darum bittet. Es kann für PatientInnen im ersten Augenblick sehr belastend sein, diese Fotos zu sehen, auch wenn die PatientInnen, die in Studien dazu befragt worden sind, es als sehr hilfreich darstellten. Sie können natürlich auch andere Fotos nutzen: von Familienfesten, an denen der/die PatientIn nicht teilnehmen konnte, vom Garten, vom Fußballverein usw. Auch Bilder oder Gedichte, die die Kinder gemacht haben, können in das Tagebuch geklebt werden. Und Briefe oder Postkarten sowieso.

Wenn PatientInnen das Intensivtagebuch lesen

Angehörige fragen sich wann der richtige Zeitpunkt ist um das von ihnen geführte Tagebuch – gemeinsam mit dem oder der PatientIn – zu lesen. Wichtig zu wissen ist: Es gibt keinen bestimmten Zeitpunkt, an dem es am besten für den/die PatientIn ist, das Tagebuch zu lesen. Nicht alle PatientInnen wollen das Tagebuch gleich lesen. Manche wollen es nie lesen. Wichtig ist es dennoch, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, denn eine Konfrontation mit den teilweise traumatisierenden Ereignissen muss in jedem Fall vermieden werden.

Sobald die PatientInnen sich aber für Ihre Erkrankung und den Verlauf auf der Intensivstation zu interessieren beginnen, ist der Zeitpunkt für das erste Lesen günstig. PatientInnen fragen z.B.  „Was war denn los?”, „Wie lange ich bewusstlos?”, „Warum bin ich so schwach?”. Diese Fragen können gute Ausgangspunkte für die gemeinsame Rekonstruktion der Erkrankungsgeschichte mit dem Tagebuch sein.

Idealerweise wird das Tagebuch nicht alleine gelesen, sondern in Begleitung, sei es mit professioneller Hilfe oder mit der Familie. Wir wissen, dass viele PatientInnen beim ersten Lesen sehr berührt sind und deshalb mitunter weinen, weil sie zum ersten Mal begreifen, wie schwer krank sie gewesen sind und was die Angehörigen alles durch gemacht haben.

Dennoch hilft ihnen das Lesen beim Gesunden. Auch sogenannte Flashbacks (unkontrolliertes Wieder-Erleben traumatisierender Ereignisse durch auslösende Situationen wie Geräusche) werden dadurch gelindert. Und scheinbar hilft es auch der Beziehung zwischen Angehörigen und PatientInnen, denn man spricht über diese Zeit der Intensivstation und kann sich über die unterschiedlichen Erfahrungen austauschen. Man wird nicht wieder der oder die Alte, aber man wird eben gesünder und akzeptiert das erlebte Schicksal.

Die Bedeutung des Tagebuchs für Angehörige und Trauernde

Tagebücher werden in der Regel geschrieben, um die Genesung von PatientInnen und Familien zu unterstützen. Tagebücher können aber auch geschrieben werden, um die eigene Erfahrung auf der Intensivstation und die Sorge um eine geliebte Person besser in das eigene Leben zu integrieren. Besonders hilfreich für Angehörige ist ein Tagebuch auch dann, wenn PatientInnen sterben, als Unterstützung im Trauerprozess zur Verarbeitung der eigenen Gefühle und Bewältigung der Trauer. Dabei ist es weniger relevant, was im Tagebuch vorkommt, es gibt dabei kein richtiges oder falsches Tagebuchschreiben. Vielmehr stiftet das Tagebuch einen geschützten Raum der stillen Reflexion, den man immer wieder aufsuchen kann, um die eigenen Gefühle ausdrücken zu können, was im Familien- oder Freundeskreis nach einem schweren Verlust zunächst vielleicht schwer fallen kann.

Kristin ist Teil unseres Teams und hat ihre Gedanken zum Tagebuch und wie ihr das Schreiben als Angehörige geholfen hat – sowohl in der akuten Situation auf der Intensivstation, als auch nach ihrem Verlust ihres Partners – in einem Erfahrungsbericht notiert: Das Tagebuch für meinen Partner.

Hilfe nach der Rehabilitation

Die Rehabilitation nach einem Intensivaufenthalt kann unterschiedlich lange dauern. Manche brauchen nur ein paar Tage, andere Jahre. Je länger jemand auf einer Intensivstation ist und dort beatmet wird, desto länger dauert die Rehabilitation. Im Durchschnitt (!) benötigt ein/e PatientIn nach 48 Stunden Beatmung 9-12 Monate, um wieder rehabilitiert zu werden. Das ist eine lange, anstrengende Zeit. Irgendwann braucht man mehr Hilfe.

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